Ist mein Kind süchtig? - Internetsucht bei Kindern und Jugendlichen
Ist Internetsucht eine Krankheit? Der Begriff Internetsucht wird heute häufig im Zusammenhang mit einer exzessiven Nutzung des Internets allgemein oder einzelner Anwendungen verwendet. Betroffene Personen beschreiben, dass verschiedene Online-Angebote ihre Gedanken beherrschen und ihr Verhalten im Alltag bestimmen. Alltägliche Pflichten (Schule oder Beruf) und soziale Kontakte (Freunde und Angehörige) werden vernachlässigt, um online sein zu können. Neben dem Begriff "Internetsucht" haben sich ebenfalls Bezeichnungen wie "Online-Sucht", "Internetabhängigkeit", "Computerabhängigkeit" oder "pathologische Internetnutzung" etabliert. Sie beschreiben jedoch im Grundsatz das gleiche Phänomen. Trotz der zunehmenden Verwendung des Suchtbegriffs handelt es sich bei der sogenannten Internetsucht nicht um eine anerkannte Abhängigkeitserkrankung. Noch nicht: Die erfahrenen negativen Konsequenzen im Alltag von Personen mit einer Internetsucht sind unumstritten – ebenso wenig wie die Notwendigkeit, solche Personen zu behandeln. Daher geht die Forschung zunehmend dazu über, die Kriterien einer möglichen Abhängigkeit mit anderen Substanz- und Verhaltensabhängigkeiten (zum Beispiel "Spielsucht") zu vergleichen. Deren Symptome ähneln denen einer Internetabhängigkeit.
Welche Formen der Abhängigkeit gibt es?Grundlegend werden zwei Formen einer Internetsucht unterschieden: die generalisierte und die spezifische Internetsucht.
Generalisiert bedeutet: Die Betroffenen nutzen verschiedene Internetangebote (Chat, Nachrichten verfolgen, Spiele) gleichzeitig und gleich oft – wobei Stunden über Stunden vergehen.
Spezifisch heißt: Es gibt eine bestimmte Nutzungsform des Internets, die deutlich im Vordergrund steht. Die am häufigsten beobachteten Formen sind die exzessive Nutzung von
Online-Spielen (z. B. Rollenspiele wie "League of Legends"),
Online-Glücksspielen (z. B. Onlinepoker oder ähnliche Casinospiele),
Online-Pornografie,
Online-Shopping oder
Online-Plattformen zur Kommunikation (z. B. Soziale Netzwerke und Messenger wie Facebook, WhatsApp oder Instagram)
Wie viele Internetsüchtige gibt es?Balkendiagramm Das Internet ist allgegenwärtig. Gerade wenn Kinder und Jugendliche ein Smartphone besitzen, gehört das Online-Sein zum Alltag. Die meisten sind nach eigenen Schätzungen (vornehmlich mit dem Handy) mehrere Stunden im Netz. (Siehe die aktuellen KIM- und JIM-Studien.) Die Zahl an Personen mit Tendenzen zu einer Abhängigkeit fällt jedoch wesentlich geringer aus. Sie ist aber nicht zu unterschätzen. Internationale Studien und Statistiken gehen von einer Verbreitung der Internetsucht von einem bis acht Prozent in der Gesamtbevölkerung aus. In Deutschland liegt die Verbreitung einer problematischen Nutzung bei einem Prozent der Bevölkerung. Es zeigt sich jedoch, dass Jugendliche und junge Erwachsene mit ca. 3,5 Prozent häufiger betroffen sind (PINTA-Studie, 2013). Aber die Zahlen unterscheiden sich zum Teil recht deutlich. Das ist insbesondere darauf zurückführen, dass es noch keinen anerkannten Standard bezüglich der Diagnosekriterien einer Internetsucht gibt.
Wie erkennt man, ob jemand internetabhängig ist? Welche negativen Folgen hat die Sucht?Jugendlicher vor einem Computerspiel
Die verbrachte Online-Zeit ist allein noch kein entscheidendes Kriterium für das Vorhandensein einer Sucht. Entscheidend sind vielmehr die negativen Konsequenzen im alltäglichen Leben und das Ausmaß des selbst empfundenen Leidensdrucks durch die eigene Internetnutzung.
Ein Beispiel: Ein Junge verbringt viel Zeit mit einem Online-Rollenspiel. Trotzdem erfährt er keine negativen Konsequenzen: Er kann beispielsweise weiterhin sein Verhalten kontrollieren und Pflichten wie Hausaufgaben erfüllen.
Schwierig wird es, wenn das viele Spielen des Jungen dazu dient, Probleme zu verdrängen oder negativen Stimmungen aus dem Weg zu gehen. Der Versuch, die Internetzeit einzuschränken, schlägt meist fehl. Und dass, obwohl der Junge die negativen Auswirkungen durchaus bemerkt.
Folgende Verhaltensauffälligkeiten werden häufig mit einem problematischen oder suchtartigen Internetgebrauch assoziiert (nach Brand & Laier, 2013 – siehe Literaturverzeichnis):
Es wird ständig über die vergangenen oder die kommenden Internetaktivitäten nachgedacht. Die Internetnutzung entwickelt sich zur vorherrschenden Aktivität im Leben der Betroffenen.
Fehlt die Möglichkeit, online zu sein, tauchen vermehrt Gefühle wie Gereiztheit, Traurigkeit oder Ängstlichkeit auf.
Um sich gut zu fühlen, muss immer mehr Online-Zeit aufgebracht werden.
Versuche, die eigene Nutzung zu kontrollieren und sich an Regeln zur Nutzungszeit zu halten, bleiben erfolglos.
Online-Spiele, zu chatten und/oder sich in sozialen Medien zu präsentieren wird früheren Hobbys und Freizeitbeschäftigungen vorgezogen.
Trotz bereits entstandener Schwierigkeiten wird der Computer, das Tablet, die Konsole oder das Smartphone weiter genutzt.
Die Dauer der Zeit im Netz wird verschwiegen oder falsch dargestellt.
Man verbringt seine Zeit darin, um negative Stimmung zu vermeiden oder vor negativen Gefühlen zu flüchten.
Die Leistung in der Schule oder der Kontakt mit Freunden, Mitschülern und Angehörigen leidet infolge der genannten Handlungen.
Sollten Eltern gleichzeitig mehrere der aufgelisteten Verhaltensweisen bei dem Kind beobachten, kann dies auf eine Problematik hindeuten. Eine zuverlässige Diagnose kann jedoch nur von ausgebildeten Fachtherapeuten gestellt werden – und diese entscheiden dann auch, welche Therapie ggf. vonnöten ist.
Internetsucht – wer ist gefährdet?Computerspiel
Auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Forschungen zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit bestimmten Merkmalen eher Schwierigkeiten haben, ihre Internetnutzung zu regulieren. Aber dies trifft nicht zwangsläufig auf alle zu. Es gibt keine einfachen Ursache-Wirkungs-Beziehungen.
Zahlreiche Untersuchungen legen dar, dass Symptome einer Internetsucht vermehrt bei denjenigen auftreten, die depressiv oder im sozialen Kontakt unsicher oder ängstlich sind. Auch Personen, die schüchtern sind oder sich sozial einsam fühlen, beschäftigen sich vermehrt mit Inhalten aus dem Netz. Gleiches gilt bei einem geringeren Selbstwertgefühl oder bei fehlender sozialer Unterstützung im eigenen Umfeld.
Dies kann Folgendes bedeuten: Personen, die sich weniger gut in ein soziales Gefüge integriert fühlen, wenden sich eher dem Internet zu. Sie versuchen dort ihre sozialen oder individuellen Bedürfnisse zu erfüllen. Einzelne Internetanwendungen erleichtern die Kommunikation. Sie lenken schnell und unkompliziert von den Schwierigkeiten im Alltag ab.
Online zu sein dient diesen Personen als Möglichkeit der Flucht vor den Alltagspflichten, vor unangenehmen Situationen und Gefühlen. Die bestehenden Konflikte erscheinen ihnen dann weniger bedrohlich.
Manche Betroffene neigen dazu, sich eher kurzfristig zu belohnen statt langfristige Strategien bei einer Entscheidung zu berücksichtigen. Einzelne Symptome der Internetabhängigkeit können dadurch verstärkt werden.
Folgende Personen sind weniger gefährdet, das Internet zur Vermeidung von Probleme zu nutzen:
Personen, die keine Schwierigkeiten haben, sich mit anderen Menschen auszutauschen,
Personen, die eine sehr kontrollierte und gewissenhafte Persönlichkeit aufweisen und eine geringere Stressanfälligkeit haben.
Was kann ich als Mutter, Vater oder Erziehender vorbeugend tun?Handy wird ausgeschaltet
a) Akzeptieren und tolerieren
Das Internet bietet Kindern und Jugendlichen viele Vorteile und bereichernde Möglichkeiten im Alltag – sofern sie es "richtig" nutzen. Eltern sollten akzeptieren, dass sich Kommunikationswege, Informationssuche oder auch Unterhaltungsmöglichkeiten im Laufe der Zeit verändert haben und diese nicht zwangsläufig zu verteufeln sind.
b) Medien verstehen lernen
Eine aktive Auseinandersetzung mit den Nutzungsmöglichkeiten und attraktiven Merkmalen der "neuen" Medien ist wichtig – für Kinder ebenso wie für ihre Eltern. Aber auch eher "unangenehme“ Themen wie Internetsucht und mögliche Vorsorgemaßnahmen müssen angesprochen werden.
Das bedeutet, dass sich Eltern und Erziehende mit den verschiedenen Medien befassen müssen: Was macht der Nachwuchs im Netz? Mit welchen Inhalten wird er konfrontiert? Welche Funktion nimmt das das Online-Sein im Alltag ein?
c) Kindern beibringen, ihr Internetverhalten zu hinterfragen und zu regulieren
Neben der Vermittlung technischen Wissens rund um das Internet sollte den Mädchen und Jungen gezeigt werden, wie sie ihr eigenes Verhalten reflektieren und regulieren können. Praktisch gesprochen umfasst dies die Fähigkeiten
sich angemessen mit anderen über Chats, Messenger und sozialen Medien auszutauschen,
sich nicht von unbekannten Inhalten fehlleiten zu lassen,
sich genau zu überlegen, welche Informationen sie über sich selber preisgeben sowie
die eigene Nutzung kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls einzuschränken.
Diese Herangehensweise macht deutlich, dass es vor allem soziale und kommunikative Kompetenzen sind, die Schutz gegen eine unkontrollierte Internetnutzung bieten: ein angemessenes Kommunikationsverhalten, die Fähigkeit, konstruktiv Konflikte zu lösen, und auch selbst das eigene Verhalten einschätzen zu können.
Für den Alltag ebenso wie für den Online-Bereich gilt: Die Regeln, die im ganz normalen Umgang außerhalb des Internets selbstverständlich angewendet werden, sind ebenso bei allen anderen Wegen der Kommunikation gültig.
Gleichzeitig sollte das Internet nicht dazu dienen, vor Problemen zu flüchten. Mädchen und Jungen sollten alternative Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt bekommen, die dabei helfen, Schwierigkeiten (zum Beispiel im Umgang mit anderen) zu bewältigen.
d) Stichwort "Selbstregulation": Den eigenen Medienkonsum hinterfragen und regulieren
Bei der Frage nach der Wichtigkeit der Online-Medien sind nicht nur die Jüngeren gefragt. Auch Erwachsene sollten sich überlegen, welche Vorbildfunktion sie einnehmen und welche Bedeutung diese Medien eigentlich für sie selber haben.
Selbstregulation ist eine Fähigkeit, die schon im frühen Alter in verschiedenen Situationen vermittelt wird: sei es die Frage nach der Anzahl der Süßigkeiten, die gegessen werden dürfen oder das Teilen von Spielzeug mit anderen Kindern. Solche Situationen erziehen Kinder dazu, sich nicht einem maßlosen Konsum hinzugeben, sondern bestimmte Dinge und Verhaltensweisen einzuschränken.
Dies ist der gleiche Ansatz, der auch beim Medienkonsum verfolgt werden sollte. Die Internetnutzung sollte nicht als Instrument der Belohnung oder Bestrafung eingesetzt werden. Vielmehr sollten Erziehende ihren eigenen Medienkonsum reflektieren und entsprechend Vorbild sein.
Ein Beispiel: Sitzt die Familie beim Abendessen zusammen, ist es wenig sinnvoll, dem Kind die Nutzung einer Smartphone-App zu verbieten, während gleichzeitig der Fernseher angeschaltet ist, weil der Erwachsene während des Essens die Sportschau sehen möchte.
Stellen Sie sich doch einmal folgende Fragen:
Bin ich selbst in der Lage, beim Mittagessen auf mein Handy zu verzichten?
Welchen Stellenwert haben WhatsApp, Facebook, einzelne Internetseiten und/oder Instagram für mich?
Kann ich Sie meine Nutzung kontrollieren?
Vielleicht konnten Sie die Fragen 1 und 3 auch nicht voll und ganz bejahen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, sich die eigene Mediennutzung anzuschauen und zu reflektieren. Überlegen Sie dann, wie Sie gemeinsam als Familie Regeln aufstellen können, damit Internet, Computer und Smartphone den Alltag nicht beherrschen, sondern bereichern!
----------------------------------------------------------------------------------------------------------
Die Verfasser des Schwerpunkts
Dieser Schwerpunkt wurde - in enger Zusammenarbeit mit der Internet-ABC-Redaktion - verfasst von: Benjamin Stodt, Elisa Wegmann und Prof. Dr. Matthias Brand von der Universität Duisburg-Essen, Fachgebiet Allgemeine Psychologie: Kognition. Der Schwerpunkt basiert auf der Studie "Geschickt geklickt?! Zum Zusammenhang von Internetnutzungskompetenzen, Internetsucht und Cybermobbing bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen" (Leipzig: Vistas, 2015. Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, Band 78.)
Pressemitteilung der LfM NRW zur Studie
Comments