Liebe und Erwartung: Der gefährliche Glaube an den Vollkommenen
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- 28. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
„Niemand kann dich vollständig machen – das ist keine Aufgabe für einen anderen Menschen.“ Carl Gustav Jung
In modernen Beziehungen scheint ein unsichtbares Gesetz zu gelten: Wir erwarten vom Partner alles. Liebe, Verständnis, Humor, Leidenschaft, Sicherheit, Anerkennung, Stabilität, Abenteuer – und das oft gleichzeitig. Psychologisch betrachtet ist diese Erwartung hochgradig unrealistisch, und philosophisch betrachtet ein Relikt einer idealisierten Vorstellung von Liebe, die viele Generationen geprägt hat.
1. Historische Perspektive – War das schon immer so?
Die Idee, dass ein Partner alles erfüllen sollte, ist relativ jung.
In vorindustriellen Gesellschaften war die Partnerschaft oft funktional: ökonomische Sicherheit, soziale Ordnung, Kinderaufzucht. Liebe, emotionale Erfüllung und Selbstverwirklichung spielten kaum eine Rolle.
Mit der Romantik im 18. und 19. Jahrhundert begann die Vorstellung, dass Liebe Erfüllung und Selbstentfaltung zugleich sein sollte. Schriftsteller, Philosophen und Dichter wie Goethe, Rousseau oder Schopenhauer propagierten die Idee der „Seelenverwandtschaft“.
Psychologisch verschärft hat sich das im 20. Jahrhundert: Die Individualisierung der Gesellschaft, psychologische Erkenntnisse über Selbstverwirklichung und die Medienbilder des perfekten Paares führten dazu, dass wir immer mehr von einem Menschen erwarten, oft mehr als menschlich möglich ist.
2. Die psychologische Dynamik
Warum erwarten wir alles vom Partner?
Projektion unerfüllter Bedürfnisse: Dinge, die wir in uns selbst nicht erfüllen können – Anerkennung, Sicherheit, Selbstwert – projizieren wir auf den anderen.
Idealisierung: Am Anfang der Beziehung wird der Partner oft überhöht, Schwächen übersehen, Bedürfnisse überbetont.
Abhängigkeit: Wer glaubt, vom Partner alles zu brauchen, gibt Teile der eigenen emotionalen Verantwortung ab.
Vergleich mit Idealen: Filme, Bücher und Social Media liefern unrealistische Bilder, die zu innerem Druck führen.
Das Ergebnis: Unrealistische Erwartungen erzeugen systematisch Enttäuschung – ein perfekter Nährboden für Unglück in der Partnerschaft.
3. Philosophische Dimension
Philosophen warnen seit jeher vor der Idee, dass ein anderer Mensch uns „vollständig“ machen könnte.
Aristoteles sah Glück (Eudaimonia) als individuelle Aufgabe. Beziehungen sind Begleiter, nicht Erfüller.
Søren Kierkegaard betonte, dass wahre Liebe nicht die Besitzergreifung des anderen ist, sondern das Respektieren seiner Eigenständigkeit.
Existenzialisten wie Sartre sehen die Projektion unserer Wünsche auf den Partner als Quelle von Konflikten und Entfremdung: Wer alles erwartet, setzt sich selbst und den anderen unter Druck.
4. Der schnellste Weg zum Unglück
Psychologisch betrachtet ist der „beste Weg, unglücklich zu werden“, folgender:
Den Partner mit allen eigenen unerfüllten Bedürfnissen überladen.
Vergleichen: ständige Gegenüberstellung mit Idealen, anderen Paaren, Filmen.
Kontrolle und Kritik: versuchen, den anderen zu formen, statt ihn zu akzeptieren.
Selbstaufgabe: eigene Hobbys, Freunde, Leidenschaften hintenanstellen, um die gesamte emotionale Last auf den Partner zu legen.
Die Folge: Enttäuschung, Frust, Distanz und oft Trennung.
5. Der gesündeste Ansatz
Eigenständigkeit bewahren: Jede*r ist für sein eigenes Glück verantwortlich. Partner ergänzen, ersetzen aber nicht.
Realistische Erwartungen: Niemand kann alles sein – und das ist gut so. Unterschiedlichkeit bereichert, nicht bedroht.
Akzeptanz: Schwächen, Macken, Eigenheiten sehen und respektieren.
Kommunikation: Bedürfnisse offen äußern, ohne Anspruch auf Erfüllung.
Selbstreflexion: Warum erwarte ich das? Ist das realistisch? Was kann ich selbst erfüllen?
6. Fazit
Die Erwartung, vom Partner alles zu bekommen, ist ein modernes, kulturell geprägtes Phänomen – historisch jung und psychologisch riskant.Wer alles erwartet, setzt sich selbst und den anderen unter Druck. Wer hingegen eigenständig bleibt, akzeptiert und kommuniziert, lebt erfülltere, stabilere Beziehungen.
Liebe ist nicht die Erfüllung all unserer Bedürfnisse. Sie ist ein Spiegel, ein Begleiter, eine Chance zur gegenseitigen Entfaltung – perfekt unperfekt.

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