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Wussten Sie schon?

Die Paradoxie der Kontrolle: Ein Blick aus psychologischer und neurologischer Perspektive

Die Frage nach der Kontrolle über unser Leben ist ein faszinierendes Thema, das nicht nur psychologisch, sondern auch neurologisch betrachtet werden kann. In einer Welt, die von Technologie, Daten und einer Fülle von Informationen geprägt ist, scheint die Kontrolle über unser tägliches Leben immer präsenter zu werden. Von der Überwachung unserer Schritte und Essgewohnheiten bis hin zu unserer digitalen Präsenz - wir werden zunehmend gebeten, alles zu kontrollieren und zu überwachen.

Hinter dem Wunsch nach Kontrolle steht der Wunsch nach Sicherheit und die Angst vor Unsicherheit. Sicherheit in dem Sinne gibt es nicht. Also können wir uns nur mit der Angst vor Unsicherheit beschäftigen und diese für uns bearbeiten. Ansonsten werden wir schnell zu Abhängigen durch ständiges Streben nach Sicherheit und Kontrolle.


Doch inmitten dieses strengen Kontrollregimes stellt sich die Frage: Wo bleibt die Leichtigkeit des Lebens?

Unsere moderne Obsession mit Kontrolle hat tiefe Wurzeln. In der Tat sind wir als Menschen evolutionär darauf ausgerichtet, unsere Umgebung zu verstehen und zu beeinflussen. Diese Fähigkeit hat es uns ermöglicht, als Spezies zu überleben und zu gedeihen. Doch während die Menschheit sich weiterentwickelt hat, ist auch unser Verständnis von Kontrolle komplexer geworden.


Doch wie kam es dazu, dass die Kontrolle zu einem so dominanten Faktor in unserem Leben wurde? Die Antwort liegt teilweise in unserem Bedürfnis nach Sicherheit. Seit den 1950er Jahren hat das Streben nach Sicherheit einen enormen Einfluss auf die Gesellschaft gehabt, insbesondere in Deutschland. In dieser Zeit erlebte das Konzept der Versicherungen und Werbung einen Boom, der stark mit Gefühlen von Sicherheit, Kontrolle und Angst spielte. Menschen wurden dazu ermutigt, sich abzusichern, sei es durch Versicherungen für ihr Zuhause, ihre Gesundheit oder ihr Auto.


Heutzutage geht dieses Bedürfnis nach Sicherheit noch weiter und dringt tiefer in unsere Privatsphäre ein. Die fortschreitende Technologie ermöglicht es, nahezu jede Facette unseres Lebens zu überwachen, sei es unsere körperlichen Aktivitäten durch Fitness-Tracker, unsere Essgewohnheiten durch Apps zur Ernährungskontrolle oder sogar unsere Gedanken und Emotionen durch Wearables und neurologische Messgeräte.

Aber während wir uns in einem ständigen Streben nach Kontrolle befinden, müssen wir uns fragen: Was verlieren wir dabei? Meine Großmutter wurde stolze 96 Jahre alt, ohne jemals ein Fitness-Tracker zu besitzen oder ihre Kalorien zu zählen. Sie lebte ein einfaches, aber erfülltes Leben, das von Leichtigkeit und Freude geprägt war. Sie lehrte mich, dass es im Leben nicht nur darum geht, jeden Aspekt zu kontrollieren, sondern auch darum, loszulassen und den Moment zu genießen.


Die Neurobiologie der Kontrolle bietet einen faszinierenden Einblick in dieses Phänomen. In unserem Gehirn arbeiten verschiedene Regionen zusammen, um Entscheidungen zu treffen und Verhalten zu steuern. Der präfrontale Cortex, oft als Kontrollzentrum des Gehirns bezeichnet, spielt eine Schlüsselrolle bei der Regulation von Impulsen, der Planung zukünftiger Handlungen und der Bewertung von Risiken und Belohnungen. Wenn dieser Bereich gestärkt wird, wie es bei regelmäßiger Selbstkontrolle der Fall ist, können wir effektiver unsere Handlungen steuern und langfristige Ziele verfolgen.


Doch wie konnte es sein, dass unsere Vorfahren ohne die heutige Maßnahme der Kontrolle gelebt haben? Die Antwort liegt vielleicht in einem einfachen, aber mächtigen Prinzip: Anpassungsfähigkeit. Frühere Generationen haben möglicherweise keine digitalen Werkzeuge oder strenge Zeitpläne verwendet, aber sie haben sich auf ihre natürliche Intuition und ihre sozialen Netzwerke verlassen, um Herausforderungen zu bewältigen und ein erfülltes Leben zu führen.


Es gibt jedoch eine dunkle Seite der Kontrollbesessenheit. Die ständige Überwachung und Bewertung unseres Verhaltens kann zu Stress, Angst und sogar psychischen Gesundheitsproblemen führen. Das ständige Streben nach Perfektion und die Unfähigkeit, loszulassen, können uns von den Freuden des Lebens entfremden und uns in einem endlosen Zyklus der Selbstoptimierung gefangen halten.

Psychologisch gesehen kann ein übermäßiges Streben nach Kontrolle negative Auswirkungen auf unsere Psyche haben. Der ständige Druck, alles zu überwachen und zu kontrollieren, kann zu Stress, Angst und einem Gefühl der Unzufriedenheit führen. Wir müssen lernen, dass es in Ordnung ist, nicht alles im Griff zu haben und dass wahre Freiheit darin liegt, loszulassen und den Fluss des Lebens zu akzeptieren.


Auf der anderen Seite besteht jedoch die Gefahr, dass wir uns so sehr an ein Kontrollsystem gewöhnen, dass wir seine potenziell negativen Auswirkungen auf unsere Freiheit und Privatsphäre nicht erkennen. Wir müssen uns daher stets fragen, was uns wirklich guttut: Ist es die ständige Kontrolle über unser Leben oder die Fähigkeit, die Kontrolle loszulassen und im Hier und Jetzt zu leben?

In einer Welt, die von Technologie und einem ständigen Streben nach Perfektion geprägt ist, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass wahre Freiheit und Glück nicht durch Kontrolle, sondern durch Akzeptanz, Achtsamkeit und das Loslassen von Erwartungen gefunden werden können. Es ist an der Zeit, dass wir uns darauf besinnen, was wirklich zählt, und den Mut haben, loszulassen und das Leben in seiner ganzen Fülle zu erleben.


Aus der SZ-Ausgabe 2014: "Wir werden manipulierbar und unfrei"

"Als erster großer Versicherer in Europa setzt die Generali-Gruppe künftig auf die elektronische Kontrolle von Fitness, Ernährung und Lebensstil. Kunden erhalten Gutscheine und Rabatte, wenn sie gesund leben. Der Preis: Sie übermitteln der Generali über eine App regelmäßig Daten zum Lebensstil. Das neue Modell ist verlockend und problematisch zugleich. Es entspricht genau jener Zukunft, vor der Juli Zeh in ihrem Roman "Corpus Delicti" warnt. Ein Gespräch mit der Schriftstellerin und Juristin."

"Aber das Streben nach Sicherheit, Gesundheit, Schmerz- und Risikofreiheit führt letztlich zu einem totalitären Gesellschaftsmodell. Wir folgen derzeit dem Irrglauben, unser Schicksal, sprich unsere Zukunft beherrschen zu können, indem wir ständig alles "richtig" machen und uns unentwegt selbst optimieren - auf der Arbeit, bei Gesundheit und Ernährung, selbst bei Liebe und Sex. Alles ist Leistungssport. Wir glauben, dadurch Kontrolle über unser Leben zu gewinnen. In Wahrheit werden wir manipulierbar und unfrei."


Die Frage nach dem, was uns wirklich gut tut, ist von entscheidender Bedeutung. Vielleicht liegt die Antwort irgendwo in der Mitte – in einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Selbstkontrolle und Selbstakzeptanz, zwischen Planung und Spontaneität. Es ist wichtig, dass wir uns bewusst werden, wann wir die Kontrolle loslassen müssen, um Raum für Freude, Kreativität und menschliche Verbindung zu schaffen.

In einer Welt, die von Kontrolle geprägt ist, ist es an der Zeit, sich zu fragen, ob wir wirklich die Meister unseres Schicksals sein müssen oder ob wir uns einfach dem Fluss des Lebens hingeben sollten – mit all seinen Höhen und Tiefen, seiner Unvorhersehbarkeit und seiner Schönheit.


Es ist an der Zeit, die Leichtigkeit des Seins wiederzuentdecken und zu erkennen, dass wahre Freiheit oft darin besteht, loszulassen und einfach in den Moment zu leben.


Hier einige Artikel zu dem Thema:






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