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Wussten Sie schon?

"Wenn man immer zusammenhockt, lässt das die Flamme schnell erlöschen?"

"Die Paartherapeutin Sandra Konrad weiss, wie schädlich zu grosse Erwartungen an den anderen gerade in der Selbstisolation sind. Ihr Rat an Paare, bevor ein Streit eskaliert: die 5:1-Regel.

Sandra Konrad, 45, ist systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin mit eigener Praxis in Hamburg. Sie schreibt auch Sachbücher, zuletzt erschienen «Liebe machen» (2015) und «Das beherrschte Geschlecht» (2017), beide im Piper-Verlag.

Seit knapp zwei Wochen verbringen wir in der Schweiz und in Deutschland den ganzen Tag zu Hause, sieben Tage die Woche. Es heisst, die schlimmste Phase folge erst: Erfahrungsgemäss soll der Stress in einem mehrwöchigen Hausarrest ab der dritten Woche steigen. Stimmt das?

Laut Studien verstärken sich Stresssymptome bei einer tatsächlichen Quarantäne bereits nach zehn Tagen empfindlich. Aber schon bei der jetzigen Selbstisolation berichten viele Leute von Einsamkeit, sie fühlen sich getrennt, abgeschnitten von allem. Das höre ich sowohl von Klienten, die allein leben, als auch von denjenigen, die in einer Paarbeziehung sind.

Sie sagen, Sie möchten die Leute wachrütteln. Warum?

Damit es nicht zur kompletten Ausgangssperre kommt. Denn es ist entscheidend, dass wir den Spielraum, der uns immer noch bleibt, selbstbestimmt nutzen. Man weiss, wie wichtig Selbstwirksamkeit ist, wenn man sich in seinen Freiheiten beschränken muss. Noch kann ich mich freiwillig entscheiden, die sozialen Kontakte herunterzufahren und zu Hause zu bleiben. Es hilft mir enorm, wenn ich mir sagen kann: Ich mache das, weil ich einen Sinn darin sehe und um mich selber und andere zu schützen. Die Auswirkungen der Freiheitsbeschränkungen erleben wir auf diese Weise milder, als wenn diese von aussen bestimmt würden.

Was hätten noch strengere Beschränkungen psychologisch zur Folge?

Die Auswirkungen auf unsere Psyche, die das Herunterfahren des sozialen Lebens schon jetzt hat, würden sich verstärken. Eine neulich im Fachmagazin «Lancet» veröffentlichte Studie zeigt, dass bei Quarantäne Angst, Verwirrung, starke Reizbarkeit und Wut entstehen können. Einige Menschen entwickeln posttraumatische Belastungssymptome. Auch das Risiko für Substanzmissbrauch erhöht sich. Und noch etwas macht mir Sorgen.

Was genau?

Ich befürchte, dass damit auch die häusliche Gewalt ansteigt. Psychischer Stress kann Aggressionen und Gewalt fördern, und es gibt für die Betroffenen dann keine Ausweichmöglichkeiten.

Wie überlebt man die Verbannung ins Haus mehr oder weniger schadlos?

Das Zusammenleben auf engem Raum verlangt viele Absprachen. Das ist anders als an einem freien Wochenende, wenn am Montagmorgen jeder wieder seines Weges geht. Müssen nun beide von zu Hause aus arbeiten, können Frust, Wut und Enttäuschung entstehen. Es braucht eine grosse Kooperationsbereitschaft.

Klingt nüchtern, wie Sie von Liebe reden.

Nun ja, meine Erfahrung zeigt, dass überfrachtete Erwartungen die Liebe überfordern. Der andere kann einem die Wünsche nicht von den Augen ablesen, auch wenn viele diese Phantasie haben. Wir müssen unsere Anliegen formulieren, verhandeln und immer wieder neu justieren, wenn es knirscht. Und es wird knirschen. Die jetzige Situation ist für die meisten Menschen auf der Welt neu und eine grosse Herausforderung.

Ist dieser Zustand vergleichbar mit anderen Situationen, denen man als Paar ausgesetzt ist?

Auch in den Ferien oder, als klassisches Beispiel, an Weihnachten fühlen sich manche Paare einander ausgeliefert. Sie können sich nicht ablenken durch Arbeit, Sport oder Freunde. Im Moment kann man sich nicht einmal mit Kunst und Kultur zerstreuen, jedenfalls nicht mit jener, die physisch erfahrbar ist. Kommt hinzu: Das Ende der Pandemie ist noch nicht richtig absehbar.

Warum halten es Paare nicht miteinander aus?

In meiner Praxis bekomme ich von Paaren oft zu hören, dass man sich nicht genug Zeit füreinander nimmt, dass man sich nicht gesehen, gehört und letztlich nicht mehr geliebt fühlt. Der Alltag ist anspruchsvoll, die Tage sind ausgefüllt. Plötzlich erlebt man sich für längere Zeit auf engstem Raum. Manche merken, dass sie einander gar nicht so gerne mögen. Für Paare, die auch bisher nicht gut kommunizierten und sogar an Trennung dachten, verschärft sich die Krise.

Nun bedeutet ja nicht jeder Streit das Ende, Paare sind sich immer wieder uneinig. Wie müsste man vorgehen, damit man zusammen trotzdem gut über die Runden kommt ?

Es gibt drei existenzielle Bedürfnisse, die man im Moment besonders beachten sollte. Da wäre einmal Verbundenheit: Verbundenheit mit dem Partner, aber auch mit anderen Menschen. Denn der Partner kann uns nicht alles geben, was wir brauchen.

Was ist das zweite Bedürfnis?

Man sollte sich Tätigkeiten suchen, die mit Sinn verbunden sind und uns Erfolgserlebnisse garantieren. Man nennt dieses Bedürfnis Kompetenzerfahrung. Man bringt zum Beispiel im Home-Office endlich eine Arbeit zu Ende oder räumt den Kleiderschrank auf. Man tut irgendetwas, hinter das man einen Punkt setzen kann und das einen danach gut fühlen lässt.

Und drittens?

Autonomie. Um sie zu erfahren, sollte man sich entsprechende Strukturen schaffen. Wer nutzt in der Wohnung welchen Raum zum Arbeiten? Wie und wo kann man sich zurückziehen? Man sollte den jetzigen Alltag, den man selber gestalten muss, strukturieren. Pausen schaffen, kurz allein hinausgehen. Allein das hilft, um die Zeit bestmöglich zu gestalten und zu überstehen.

Manchmal dürfte auch dieses Wissen nicht mehr ausreichen, weil beide so angespannt sind. Wie verhindert man, dass ein Streit eskaliert?

Bei den Paaren in meiner Praxis versuche ich die 5:1-Regel zu etablieren. Das ist eine bewährte paartherapeutische Technik: Für jede Kritik am andern, für jeden Streit und jede unangenehme Interaktion sollte es mindestens fünf angenehme Interaktionen geben. Das kann ein liebevoller Blick sein, eine Umarmung, ein Lob – irgendetwas, das die Stimmung hebt.

Warum gerade fünf?

Der amerikanische Psychologe John Gottman hat in Studien herausgefunden, dass glückliche Paare durchaus streiten, aber insgesamt liebevoll und wertschätzend miteinander kommunizieren. Also hat er die 5:1-Formel aufgestellt. Und auf diesen grundsätzlich freundlichen Umgang miteinander sollten wir jetzt mehr denn je achten.

Was aber, wenn man es gerade nicht schafft, den andern zu umarmen, man jetzt einfach hinausgehen müsste, ins Gym oder einen Freund auf ein Bier treffen, um runterzukommen – das aber jetzt einfach nicht geht?

Es gibt eine weitere Technik aus der Paartherapie, zu der ich meine Paare anleite: Wenn sie im Streit an einen Punkt gelangen, an dem sie ihre Wut nicht mehr herunterregulieren können, sollen sie ein Stoppwort sagen. Das Stoppwort haben sie vorab miteinander ausgemacht, und es ist das Signal, zu streiten aufzuhören und auseinanderzugehen, bis sie sich abgekühlt haben.

Wie könnte so ein Wort lauten?

Werden Sie kreativ! Jedes Paar hat sein eigenes persönliches Stoppwort, von «Bahama» über «Socke» bis «Minztee» – ich habe schon viele gehört. Falls das Paar Kinder hat, kann auch ein Familienstoppwort erfunden werden, das alle sagen dürfen, wenn sie den Stress nicht mehr aushalten. Sobald es fällt, so die Abmachung, gehen sie auseinander und treffen sich erst zu einem vereinbarten Zeitpunkt wieder. Im Moment ist das natürlich schwierig, wenn alle in der Wohnung festsitzen. Sobald man sich ineinander verkrallt, soll die Stoppwort-Technik einem aber erlauben, den Streit zu unterbrechen. Der eine geht dann vielleicht kurz hinaus, in den Wald oder einmal um den Block.

Warum ist der Austausch mit anderen Menschen so wichtig für eine Beziehung?

Man braucht auch Inspiration von aussen, platt gesagt. Wenn man immer zusammenhockt, lässt das die Flamme schnell eingehen. Eigene Interessen und Freundschaften sind wichtig. Man muss das Ich nähren, denn nicht alles, was der eine toll findet, findet der andere ebenso toll. Nur aus zwei Ich kann ein Wir entstehen.

Sie haben am Anfang gesagt, auch Paare würden Ihnen sagen, sie fühlten sich einsam in diesen Tagen. Kann man trotz Gesellschaft des Partners einsamer sein als üblich?

Natürlich. Der Partner mag der beste Mann oder die beste Frau sein, den oder die man sich vorstellen kann. Aber er deckt eben nicht alles ab. Nehmen wir eine Frau, die an ihrem Mann schätzt, dass er so stabil ist und sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt. Gleichzeitig ist er nicht sehr einfühlsam und empathisch, so dass sie normalerweise zu ihrer besten Freundin geht, wenn sie Kummer hat, und sich von dieser in den Arm nehmen lässt. Das fällt jetzt weg, was ein Gefühl der Einsamkeit bewirken kann.

Kann ein langes Skype-Gespräch mit einem Freund, der Leseklub via Video oder eine virtuelle Dinnerparty die Situation etwas entspannen?

Es ist wichtig, dass wir in Kontakt mit anderen bleiben und kreativ sind. Bevor wir in die Depression versinken und gar nichts mehr machen, würde ich sagen: Natürlich, ruft alle an, skypt miteinander, nehmt an Online-Konzerten teil! Alles, was uns mit anderen verbindet, ist gut. Klar: Besser ist es immer noch, sich in den Arm zu nehmen und zu küssen. Aber das geht jetzt nicht. Umso mehr sind solche virtuellen Begegnungen die zweitbeste Wahl.

Sind Kinder in der räumlichen Enge eher ein Puffer, oder erhöhen sie das Konfliktpotenzial?

Das ist total unterschiedlich. Manchen Paaren geben die Kinder Sinn und eine Struktur vor. Man sagt sich: Als Mutter und Vater tun wir alles, damit unsere Kinder möglichst gelassen und fröhlich durch diese Zeit kommen. Andere haben so mit den eigenen Sorgen und Ängsten zu kämpfen, dass die Kinder zur zusätzlichen Belastung werden und jedes Geschrei an den Nerven zerrt.

Kann es auch eine Anpassung an die Ausnahmesituation geben?

Ich denke schon, vor allem, wenn ein Ende in Sicht ist. Menschen finden aufgezwungene Veränderungen meist nicht toll, aber wir sind trotzdem erstaunlich anpassungsfähig. Zuerst will man nicht wahrhaben, dass man in seiner Freiheit eingeschränkt ist, reagiert mit Widerstand und Trotz. Bis man merkt, dass man mit seinem Verhalten etwas dazu beitragen kann, damit die Kurve der Ansteckungen abflacht. Man erkennt, dass es auch eine Form von Freiheit ist, Selbstverantwortung und Verantwortung für andere zu übernehmen.

Welche Paare überstehen diese besondere Zeit denn nun am besten?

Paare mit krisenerprobten Beziehungen werden die soziale Isolation aushalten. Die sagen sich: Das kriegen wir hin. Sie haben vielleicht schon andere Ausnahmesituationen bewältigt, was das gegenseitige Commitment erhöht. Ein starkes Gefühl der Verbundenheit kann sogar die Intimität fördern, was sich wiederum positiv auf die Sexualität auswirkt.

Man redet wenig über Leute, die mit der Selbstisolation ganz gut zurechtkommen, weil sie gerne für sich sind und die Ruhe und Entschleunigung schätzen.

Klar, diese Menschen gibt es auch. Sie schöpfen ihren Selbstwert aus sich heraus und konnten ihre Tage schon immer gut selber gestalten, auch wenn niemand die Strukturen vorgab. Anders ist es für jene, die aus der Arbeit den ganzen Sinn beziehen und diese nun wegbricht. Langeweile kommt auf, sie leiden unter fehlendem Leistungsstolz und fallen in ein Loch. Allerdings kann die Krise auch da eine Chance sein: Plötzlich hinterfragt man, wofür man bisher eigentlich gelebt hat.

Sehen Sie in der Corona-Krise demnach auch Gutes?

Wir sind jetzt unter Umständen mit Fragen konfrontiert, über die wir im getakteten Alltag nicht nachdenken mussten. Im Hamsterrad spürt man kein Vakuum. Auf einmal hat man Zeit, herauszufinden, was einem wichtig ist im Leben. Vielleicht stösst das sogar eine Veränderung an.

Wie verbringen Sie die Tage? Arbeiten Sie noch?

Ich habe alle Sitzungen in Video- und Telefongespräche umgewandelt, so wie es viele meiner Kollegen zurzeit tun. Ich finde diese Therapieweise aber suboptimal, da vieles verloren geht.

Was geht verloren?

Die Verbundenheit im gemeinsamen Raum, es fällt ein Teil der feinen Wahrnehmung weg. Am Telefon entfallen Gesten, Blicke, die ganze Körpersprache, die man mitdeutet, wenn man jemandem gegenübersitzt. Aber wenn ich damit andere und mich selber schützen kann, dann weiche ich gerne darauf aus. Wobei ich mich sehr auf die Zeit freue, wenn ich wieder hinausgehen und den Leuten in meiner Praxis persönlich begegnen kann."

Ein Artikel von Birgit Schmid

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