„Man musst nicht alles glauben, was man denkt“ – Über Bewertungen, Abwertungen und inneres Loslassen
- info44776

- 9. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Juli
Wir denken. Pausenlos.Tag für Tag rauscht ein Strom von Gedanken durch unseren Kopf – Erinnerungen, Planungen, Zweifel, Bewertungen. Viele davon bleiben unbewusst, andere graben sich tief in unser Erleben ein.
Ein Gedanke wie:
„Es hätte anders sein müssen“ kann stundenlang nachwirken. Oder:„Warum ist sie so komisch?“„Ich bin einfach nicht gut genug.“
Diese scheinbar harmlosen Sätze entfalten eine stille, oft zerstörerische Kraft – wenn wir sie für Wahrheit halten.
Doch was wäre, wenn viele unserer Gedanken keine Fakten, sondern Geschichten sind? Was wäre, wenn wir lernen könnten, nicht jedem Gedanken zu glauben?
Warum wir ständig bewerten
Bewerten ist ein Grundmechanismus unseres Gehirns.Evolutionär betrachtet mussten wir blitzschnell erkennen:
Gefahr oder Sicherheit? Gut oder schlecht? Freund oder Feind?
Diese Fähigkeit hat unser Überleben gesichert.Doch heute, in einer komplexen, schnelllebigen Welt, geraten wir in eine Überbewertungsspirale:
„War mein Auftritt gut genug?“
„Ist sie mir wohlgesonnen?“
„Bin ich richtig, wie ich bin?“
Wir bewerten Menschen, Situationen – und uns selbst. Meist automatisch. Oft hart. Und meistens aus einem einzigen Bedürfnis heraus:
Sicherheit.
Gesellschaftlicher Hintergrund: Warum wir so viel bewerten und abwerten
Unsere Tendenz zu Bewertung und Abwertung ist nicht nur individuell, sondern tief kulturell geprägt.
Früher: Kirche und Moral
In früheren Jahrhunderten war das Leben stark von religiösen Dogmen geprägt. Die Kirche setzte klare Regeln: Gut und Böse, richtig und falsch.
Bewertung wurde zur Norm.
Menschen lernten, sich selbst und andere moralisch zu beurteilen.
Schuld und Sünde prägten das Selbstbild – eine Urform der inneren Abwertung.
Moderne: Werbung und Konsum
Im 20. und 21. Jahrhundert übernahmen Medien und Werbung die Rolle, uns ständig zu bewerten:
Idealbilder, Schönheitsnormen, Erfolgsmuster werden uns unaufhörlich präsentiert.
Wir lernen, uns und andere zu messen: Wer hat das schönere Auto, den besseren Job, das perfektere Leben?
Dieses Vergleichen nährt Bewertungen und erzeugt innere Unzufriedenheit.
Heute: Politik und Spaltung
Politische Kommunikation nutzt oft Spaltung und Polarisierung als Strategie:
Wir werden aufgefordert, „für“ oder „gegen“ etwas zu sein.
Menschen werden in „Wir“ und „Die“ eingeteilt, in Freund und Feind.
Diese Mechanismen schüren Abwertungen und Verhärtungen – auch im Alltag.
Es ist nie so, wie es scheint! Hinterfragen der Hintergründe, auch wenn das Label "Wissenschaftlich erwiesen" seht, steckt oft wenig Wissenschaft drin. Und wenn, dann sollte jeder wissen, dass Wissenschaft ständig hinterfragt und der wissenschaftliche Kontext nie in Stein gemeiselt ist!
Das Ergebnis:Eine Gesellschaft, in der Bewerten und Abwerten zum Alltagsmodus geworden sind.Und in der wir oft vergessen, dass hinter jedem Menschen eine komplexe Geschichte steht – jenseits von schwarz und weiß.
Wenn Gedanken zu Wahrheiten werden
Ein Gedanke ist nicht gleich Realität.Aber wenn wir ihn glauben, verhalten wir uns so, als wäre er es.
Psychologisch nennt man das kognitive Fusion:Wir verschmelzen mit einem Gedanken, als gäbe es keine Alternative.
Beispiel:
Gedanke: „Ich bin nicht gut genug.“Folge: Rückzug, Perfektionismus, Selbstzweifel.Realität? Nicht geprüft – nur gefühlt.
Loslassen heißt hier nicht: Gedanken loswerden.Sondern: Beobachten, ohne automatisch zu folgen.
Gedanken beobachten – nicht bekämpfen
Achtsamkeitsbasierte Verfahren wie die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) oder CBT zeigen:
Gedanken kommen und gehen. Du musst nicht jeden festhalten.
Hilfreiche Techniken:
Defusion: „Ich bemerke, dass mein Verstand mir gerade den Gedanken gibt, dass ich nicht gut genug bin.“
Distanzierung: Gedanken wie Wolken am Himmel beobachten, nicht analysieren.
Neubewertung: Fragen wie: „Hilft mir dieser Gedanke?“, „Stimmt das wirklich?“
Je öfter du das übst, desto ruhiger wird es im Kopf – nicht weil weniger Gedanken kommen, sondern weil du ihnen weniger Macht gibst.
Bewertung vs. Abwertung
Nicht jede Bewertung ist schädlich.Wir brauchen sie – zur Orientierung, für Entscheidungen.
Aber:
Bewertung | Abwertung |
„Das gefällt mir mehr als das.“ | „Was der macht, ist schlecht.“ |
„Ich mag diese Art zu reden nicht.“ | „Der redet immer dumm.“ |
„Ich war unsicher.“ | „Ich bin unfähig.“ |
Abwertung ist Bewertung mit einem scharfen Unterton – gegen andere oder gegen uns selbst. Und sie verrät viel über unseren inneren Zustand.
Warum wir andere abwerten
Hinter Abwertung anderer steckt oft ein unbewusstes Motiv:
Sich selbst stabilisieren.
Wenn ich jemand anderen klein mache, erscheine ich größer.Wenn ich jemanden kritisiere, fühle ich mich sicherer.Wenn ich Fehler finde, vermeide ich, meine eigenen zu spüren.
Beispiele:
„Was der sich denkt…“
„Die ist so unprofessionell.“
„Also das hätte ich besser gemacht.“
Das Gehirn nutzt diese Strategie, um Selbstwertlücken zu kaschieren.Kurzfristig gibt das Kontrolle. Langfristig entsteht Trennung, Überheblichkeit – und innere Leere.
Wenn wir uns selbst abwerten
Die Kehrseite: Selbstabwertung.Gedanken wie:
„Ich bin nicht genug.“
„Ich werde nie genügen.“
„Ich mache immer alles falsch.“
Diese Gedanken graben sich tief ins Selbstbild ein – und formen unsere Realität.
Entstehungsquellen:
Kindheitserfahrungen ohne emotionale Bestätigung
hohe äußere Erwartungen
chronischer Vergleich
unbewusste Glaubenssätze („Ich bin nur wertvoll, wenn…“)
Der innere Kritiker wird zur Dauerschleife – und verhindert echte Entwicklung.
Was Abwertung verdeckt
Ob nach außen oder innen – Abwertung ist nie die Wurzel.Sie ist ein Symptom.
Darunter liegen oft:
mangelnde Selbstannahme
ungelebte Verletzlichkeit
fehlende emotionale Sicherheit
Die Lösung liegt nicht im „besser Denken“.Sondern im bewussten Halten dessen, was da ist – ohne sofort zu bewerten.
Wie du Bewertungen loslassen kannst
Erkenne Gedanken als Gedanken.Nicht alles, was du denkst, ist wahr.
Übe achtsame Selbstwahrnehmung.„Ah – da ist wieder mein Kritiker. Ich muss nicht mitgehen.“
Frage dich:
Hilft mir dieser Gedanke?
Will ich glauben, was ich da gerade denke?
Würde ich so mit einem guten Freund sprechen?
Ersetze Bewertung durch Neugier.Statt: „Was für ein Idiot“, versuche:„Was könnte diesen Menschen gerade innerlich bewegen?“
Stärke deinen Selbstwert unabhängig von Leistung oder Vergleich.Du bist mehr als das, was du gerade denkst oder fühlst.
Fazit: Frei werden durch inneren Abstand
Gedanken sind wie Wetter – du bist der Himmel.
Wenn du lernst, nicht jede Bewertung ernst zu nehmen,nicht jede Abwertung automatisch zu glauben,nicht jeder Geschichte deines Geistes zu folgen –dann wirst du nicht leerer.Du wirst freier.
Loslassen bedeutet nicht Gleichgültigkeit.Sondern: inneren Raum schaffen für das, was wirklich zählt.

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