Mit Gefühlen leben lernen – Ein Weg zurück zu dir selbst
- info44776
- 28. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Gefühle sind essenziell für unser Menschsein. Sie zeigen uns, was wir brauchen, was uns berührt, was uns verletzt oder begeistert. Gefühle sind Ausdruck unserer Lebendigkeit – sie sind Bewegung in der Seele. Und doch haben viele Menschen nie gelernt, mit ihnen wirklich umzugehen. Sie flüchten vor der Angst, unterdrücken die Wut, betäuben die Traurigkeit oder verlernen, Freude zuzulassen.
Doch verdrängte Gefühle verschwinden nicht – sie verschieben sich. In den Körper. In die Psyche. In unsere Beziehungen. Wer keinen Zugang zu seinen Gefühlen hat, verliert oft auch den Kontakt zu sich selbst.
Warum haben viele Menschen nicht gelernt, mit ihren Gefühlen umzugehen?
Die emotionale Kompetenz eines Menschen entwickelt sich nicht von allein – sie entsteht im frühen Kontakt mit den Bezugspersonen. Schon in der Kindheit wird uns gezeigt – meist unbewusst – welche Gefühle erlaubt sind, welche unterdrückt werden müssen und wie mit Emotionen „umzugehen“ ist.
1. Prägung in der Kindheit
Viele Kinder lernen früh: „Sei brav, sei ruhig, sei nicht so sensibel.“
Wenn wir traurig waren, hieß es vielleicht: „Das ist doch nicht so schlimm.“
Wenn wir wütend waren: „Geh in dein Zimmer!“
Wenn wir Angst hatten: „Dafür brauchst du doch keine Angst haben.“
Das Kind lernt dadurch: „So wie ich fühle, ist es nicht richtig.“Es beginnt, Gefühle abzuspalten oder sie zu kontrollieren – um geliebt, gesehen oder wenigstens nicht abgelehnt zu werden.
2. Gesellschaftliche Erwartungen
In unserer leistungsorientierten Welt zählen Funktionieren, Kontrolle, Effizienz. Emotionale Offenheit gilt schnell als „zu viel“. Verletzlichkeit wird oft mit Schwäche verwechselt. Gerade Männer erhalten oft keine Erlaubnis, überhaupt emotional zu sein – außer in Form von „starker“ Wut. Frauen hingegen werden oft als „emotional zu sensibel“ abgestempelt. Beide verlieren dabei das Vertrauen in ihre eigenen Gefühlswelten.
3. Überlebensstrategien
Viele Menschen entwickeln unbewusst Schutzmechanismen, um sich vor emotionalem Schmerz zu bewahren:
Gefühle werden intellektualisiert („Ich analysiere lieber, als zu fühlen“)
Emotionen werden betäubt (z. B. durch Alkohol, Arbeit, Essen, Medienkonsum)
Oder überspielt (z. B. durch ständige Aktivität, Humor, Kontrolle)
Diese Strategien waren oft überlebensnotwendig – doch im Erwachsenenleben trennen sie uns vom eigenen Inneren.
Was passiert, wenn wir unsere Gefühle nicht fühlen?
Gefühle verschwinden nicht, wenn wir sie ignorieren. Im Gegenteil – sie bleiben im Körper gespeichert, wirken im Unbewussten weiter und suchen sich Ausdrucksformen:
Psychische Folgen
Angststörungen: Wenn Angst nicht erkannt und begleitet wird, äußert sie sich oft diffus – in Form von innerer Unruhe, Panik oder übermäßiger Kontrolle.
Depression: Dauerhaft unterdrückte Traurigkeit, Ohnmacht oder Selbstverleugnung können in depressive Zustände münden.
Suchtverhalten: Alkohol, Konsum, Arbeit oder digitale Ablenkung dienen oft dazu, emotionalen Schmerz nicht spüren zu müssen.
Beziehungsprobleme: Wer seine Gefühle nicht ausdrücken kann, bleibt innerlich unklar oder zieht sich zurück. Nähe und gesunde Abgrenzung werden schwierig.
Körperliche Folgen
Chronische Anspannung (z. B. verspannter Nacken, Druck im Brustkorb)
Verdauungsbeschwerden, Migräne, Erschöpfung
Autoimmunerkrankungen oder psychosomatische Störungen
Schlafprobleme durch ungelöste innere Spannungen
Die Rolle des inneren Kindes
Ein zentraler Ansatz in der therapeutischen Arbeit mit Gefühlen ist die Arbeit mit dem inneren Kind. Das innere Kind steht für die emotionalen Anteile in uns, die oft aus früheren Lebensphasen stammen – verletzlich, bedürftig, lebendig.
Wenn du heute z. B. eine übermäßige Angst vor Ablehnung spürst, obwohl „rational nichts los ist“, dann meldet sich oft ein kindlicher Anteil, der einst nicht gesehen, getröstet oder gehalten wurde.
Die Arbeit mit dem inneren Kind bedeutet:
Gefühle nicht nur „wegzumachen“, sondern verstehen zu lernen, woher sie kommen
Den verletzten Anteilen Zuwendung, Halt und Sicherheit zu geben
Den Erwachsenenanteil in dir zu stärken – als liebevolle, klare Instanz, die dich führt
Das Ziel ist nicht, nur „ruhiger“ oder „funktionaler“ zu werden – sondern ganz zu werden. Du darfst wieder fühlen, was du fühlst – ohne davon überrollt zu werden. Du lernst, dich selbst zu halten.
Wie lernen wir, gesund mit Gefühlen umzugehen?
1. Gefühle erkennen und benennen
Das einfache Benennen eines Gefühls kann entlasten:
„Ich bin traurig.“„Ich spüre Wut.“„Ich habe Angst.“
Sprache gibt Struktur – und schützt davor, im Gefühl unterzugehen.
2. Den Körper mit einbeziehen
Gefühle zeigen sich über Körpersignale: Druck im Brustkorb, Enge im Hals, Zittern, Unruhe. Achtsames Spüren – ohne Urteil – hilft, mit der Emotion in Kontakt zu treten, statt ihr auszuweichen.
3. Selbstmitgefühl statt Selbstkritik
Die innere Haltung macht den Unterschied. Nicht: „Was stimmt nicht mit mir?“, sondern:
„Was will mir dieses Gefühl sagen?“„Was brauche ich gerade wirklich?“
4. Therapeutische Begleitung suchen
In vielen Fällen ist es hilfreich – manchmal sogar notwendig – sich begleiten zu lassen. Gerade bei alten Verletzungen, tiefer Unsicherheit oder wiederkehrenden emotionalen Mustern reichen oft einige Sitzungen, um das emotionale System zu stabilisieren und in neue Bahnen zu lenken.
Ich begleite Menschen in meiner Praxis – zurück in den Kontakt mit sich selbst
In meiner Praxis begleite ich Menschen dabei, wieder mit sich selbst in Kontakt zu kommen – mit dem, was sie fühlen, was sie bewegt, was in ihnen lebt. Ob es sich um Angst, Wut, Scham oder Traurigkeit handelt – all diese Emotionen wollen gesehen, gefühlt und integriert werden.
Es geht nicht darum, „negative Gefühle loszuwerden“, sondern darum, ein inneres Gleichgewicht zu entwickeln. Einen Raum in sich zu finden, in dem alle Anteile – auch die verletzten oder intensiven – willkommen sein dürfen.
Denn wahre Stärke entsteht nicht durch emotionale Kontrolle – sondern durch gelebte, gefühlte, integrierte Lebendigkeit.
Fazit
Der Umgang mit Gefühlen ist keine angeborene Fähigkeit – sondern eine lernbare Kunst. Viele von uns mussten früh Strategien entwickeln, um mit Überforderung, Ablehnung oder Einsamkeit umzugehen. Doch diese Strategien müssen heute nicht mehr unsere Realität bestimmen.
Gefühle sind nicht gefährlich – sie sind Botschafter unserer Seele. Wenn wir lernen, ihnen zuzuhören, sie zu halten und auszudrücken, finden wir oft zurück zu dem, was wir wirklich sind: menschlich. ganz. lebendig.

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