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Wussten Sie schon?

VerUrteilen - Die merkwürdige Anziehungskraft fremder Fehler

Fehler sind unvermeidlich – und trotzdem üben sie eine eigentümliche Faszination aus. Interessanterweise jedoch meist nicht die eigenen, sondern die der anderen. Während wir für uns selbst Ausreden und Erklärungen parat haben, interpretieren wir die Patzer unserer Mitmenschen oft als Beweis ihres schlechten Charakters oder mangelnder Fähigkeiten. Die Sozialpsychologie hat für dieses Phänomen einen klaren Namen: den Fundamentalen Attributionsfehler (Ross, 1977).

Er besagt, dass Menschen dazu neigen, das Verhalten anderer auf stabile innere Eigenschaften zurückzuführen, während sie ihr eigenes Handeln mit äußeren Umständen erklären. Wenn ich also zu spät komme, „war halt Stau“. Wenn die Kollegin zu spät kommt, „ist sie unzuverlässig“.


Die Psychologie hinter dem Urteil

Die Mechanik dieses Denkfehlers ist simpel – und gleichzeitig hochwirksam. Fehler der anderen stabilisieren unser eigenes Selbstbild. Wer auf die Schwächen anderer zeigt, fühlt sich automatisch überlegen. Diese Logik hat tiefe Wurzeln in der Evolution: In sozialen Gruppen war es überlebenswichtig, den eigenen Status zu schützen. Wer die Aufmerksamkeit auf die Fehltritte anderer lenkte, minimierte das Risiko, selbst kritisiert oder ausgeschlossen zu werden.

Das erklärt, warum sich unsere Wahrnehmung so stark verzerrt. Wir blenden äußere Faktoren bei anderen aus, um ein möglichst klares Schuldurteil zu fällen. Bei uns selbst hingegen greifen wir zur „milden Umstandserklärung“, weil wir unser Selbstwertgefühl schützen müssen.


Von der Steinzeit ins Social Media-Zeitalter

Das Grundmuster ist uralt, aber in der modernen Gesellschaft erhält es neue Dimensionen. Besonders sichtbar wird es in digitalen Räumen. Die Empörung über fremde Fehler ist dort nicht nur ein psychologischer Reflex, sondern auch ein ökonomischer Treiber.

Eine Studie der University of Houston (2019) zeigte, dass moralische Empörung in sozialen Netzwerken um 19 Prozent häufiger geteilt wird als sachliche Beiträge. In einer Ökonomie der Aufmerksamkeit ist die Empörung über andere also schlicht „marktfähiger“. Fehler werden zur Währung – je skandalöser, desto besser.


Der alltägliche Widerspruch

Interessanterweise sind es oft gerade die Menschen, die am schärfsten kritisieren, die ihre eigenen Verfehlungen großzügig übersehen. Empirische Daten machen den Widerspruch deutlich:

  • In einer Verkehrsstudie des ADAC (2021) hielten sich 92 Prozent der Befragten für gute Autofahrer:innen, während 83 Prozent die „anderen“ als unzureichend kompetent einstuften. Ein statistisches Paradoxon, das psychologisch Sinn ergibt: Die „Unfähigkeit der anderen“ dient als Projektionsfläche für das eigene Überlegenheitsgefühl.

  • Eine Untersuchung der Princeton University (2014) fand heraus: Menschen, die moralisches Fehlverhalten besonders streng bei anderen verurteilen, neigen überdurchschnittlich häufig dazu, ihre eigenen Regelverstöße zu rechtfertigen. Die Kritik an anderen wirkt hier wie ein Schutzschild für die eigenen blinden Flecken.


Der blinde Fleck der Empörung

Das Spannende (und Tragische) an der Lust am Fehler anderer ist, dass sie nicht wirklich auf Wahrheitssuche ausgerichtet ist. Sie funktioniert vielmehr als ein Ritual der Selbstbestätigung. Je stärker das Bedürfnis, fremde Fehler aufzudecken, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die eigenen unbemerkt bleiben.

Dieses Muster erklärt, warum Empörung so viel Energie freisetzt, aber so wenig Veränderung bewirkt. Wer sich auf den Fehltritt des anderen stürzt, stärkt sein eigenes Ego – aber nicht unbedingt die Qualität der Debatte oder das Miteinander.


Gibt es Auswege?

Ein Lösungsansatz liegt nicht in moralischer Belehrung („Sei nicht so streng mit anderen“), sondern in der bewussten Entlarvung des Mechanismus. Sobald ich erkenne, dass meine Empörung oft weniger mit dem Fehler selbst zu tun hat als mit meinem Bedürfnis nach Selbstaufwertung, verliere ich einen Teil meiner Lust am Kritisieren.

Hilfreich sind dabei Fragen wie:

  • Würde ich diesen Fehler bei mir selbst genauso hart bewerten?

  • Welche Umstände könnte ich bei der anderen Person übersehen haben?

  • Was sagt meine Reaktion eigentlich über mich selbst?

Solche Fragen verschieben den Fokus von der Selbstbestätigung hin zur Empathie – und machen uns weniger anfällig für die psychologischen Reflexe, die uns in sozialen Medien, im Beruf und im Alltag antreiben.


Fazit

Fehler anderer üben eine merkwürdige Anziehungskraft aus, weil sie uns die Möglichkeit geben, uns selbst im besseren Licht zu sehen. Doch die Forschung zeigt klar: Unsere Empörung über fremdes Fehlverhalten verrät mehr über uns als über die, die wir kritisieren.

Vielleicht liegt die eigentliche Reife nicht darin, Fehler bei anderen aufzuspüren, sondern den eigenen Mechanismus des Bewertens zu durchschauen. Denn erst dann können Fehler wieder das werden, was sie eigentlich sind: Chancen zum Lernen – und nicht Munition für den Statuskampf.


ree

 
 
 

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