"Viele verlassen ihre Partner, um ihr sterbendes Selbst zu retten."
"Wenn eine Paarbeziehung endet, ist Schmerz vorprogrammiert: Während die Verlassenen schon lange im Fokus sind, richtet die norwegische Psychologin Sissel Gran den Blick nun auf die vermeintlich „Bösen“, die verlassen – und will diese rehabilitieren.
Joachim Scholl: Es passiert ständig in einer liberalen Gesellschaft, und doch: Wen es trifft, für den ist eine der einschneidendsten, schmerzhaftesten Erfahrungen: Das Zerbrechen der Partnerschaft oder der Ehe – die Trennung. Wie man damit besser umgeht, lesen wir nun bei Sissel Gran, der bekannteste Psycho- und Paartherapeutin in Norwegen. Soeben ist ihr neues Buch auch auf Deutsch erschienen, „Ich verlasse Dich, weil ich leben will. Frei werden von Schuldgefühlen.“ so der Titel.
Sissel Gran, Ihr Blick richtet sich auf die, die gehen, die ihren Partner verlassen. Instinktiv denkt man ja, der oder die Verlassene braucht erstmal die größere Zuwendung und darüber gibt es auch eine reichhaltige Literatur. Über die anderen, die Verlassenden wird wenig geschrieben – warum wurde bisher so wenig über die Verlassenden geschrieben – weil sie die „Bösen“ sind?
Darstellung als verrückt oder böse
Sissel Gran: Ja, das geht in diese Richtung. Es ist ja sehr schmerzhaft, verlassen zu werden, und wenn das passiert, müssen wir uns um unsere Freunde und Familienangehörigen kümmern. Dann müssen wir Mitgefühl zeigen, Anteil nehmen und so weiter. Verlassen zu werden ist häufig eine sehr dramatische Erfahrung, es ist eine Krise. Viele Verlassene fühlen sich wertlos und empfinden Scham. Ich habe viele Frauen getroffen, die von ihren Männern verlassen wurden, weil diese eine neue Frau gefunden hatten.
Der Partner, der sich entscheidet, den anderen zu verlassen, ob das nun ganz plötzlich erfolgt, wie es manchmal vorkommt, oder nachdem schon lange Signale in Richtung Trennung gegeben worden sind – dieser Partner wird von Freunden und Familie des Verlassenen oft entweder als verrückt oder böse dargestellt: Verrückt, weil er oder sie sich dumm und blindlings neu verliebt hat; böse, weil er oder sie ein selbstsüchtiger Verräter ist. Es ist also sehr verbreitet, dass Freunde und Familie sich mit dem Verlassenen identifizieren, nicht mit demjenigen, der geht.
Aber hinter dem Akt des Verlassens steckt auch eine Geschichte, die erzählt werden muss. Und das ist meine Absicht. Wir müssen das einfach besser verstehen. Darum habe ich dieses Buch geschrieben.
Scholl: Sie schreiben, Sie wollen mit ihrem Buch die Gruppe derer, die gehen, rehabilitieren – warum?
Gran: Ich wollte die Trennungsgeschichte aus ihrer Perspektive erzählen, warum sie sich entschlossen haben, zu gehen, oder warum sie das tun mussten. Denn auch sie haben das Recht, gehört zu werden.
Bevor sie sich tatsächlich trennen, haben viele von ihnen bereits jahrelang um ihre gescheiterte Ehe oder Beziehung getrauert. Viele von ihnen haben gelitten, weil emotionale Bedürfnisse nicht erfüllt worden sind und sie sich vergeblich um eine engere Verbindung mit ihrem Partner bemüht haben. Vielleicht haben sie sich schrecklich einsam gefühlt, unsichtbar oder halb erstickt.
Viele verlassen ihre Partner, um ihr sterbendes Selbst zu retten. Ich wollte also die Geschichten von Leuten zeigen, die sich zum Gehen entschieden haben, weil sie das Gefühl hatten, das tun zu müssen.
Die Geschichte aus der Perspektive des Gehenden
Scholl: „Frei werden von Schuldgefühlen“ heißt es im Untertitel Ihres Buches. Und im Buch geht es darum, dass die Verlassenden mit ihren Schuldgefühlen doch sehr zu kämpfen haben – und dass man sich davon befreien soll. Was sind das für Schuldgefühle? Wie entstehen die? Kommen die mehr von Innen oder von Außen?
Gran: Das ist ein Mischung aus beidem, denke ich. Vor ein paar Jahren bekam ich eine E-Mail von einer Frau, einer Leserin, die geschieden war. Es war ihre Entscheidung gewesen ihren Partner zu verlassen, aber sie schlug sich seit ihrer Scheidung mit Schuldgefühlen herum und wurde von vielen Freunden, die sich auf die Seite ihres Mannes stellten, ausgeschlossen. Die Familie hielt sie auf Distanz und sie fühlte sich häufig allein.
Diese Frau bat mich, ein Buch über diejenigen zu schreiben, die gehen, die Geschichte aus deren Perspektive zu erzählen und zu zeigen, dass derjenige, der sich trennt, nicht gleich ein Verräter oder Psychopath ist, sondern ein Mensch mit einem Herzen voller verzweifelter Sehnsüchte und unerfüllter Bedürfnisse.
Denjenigen zu verlassen, den man einmal geliebt hat, kann sehr schwer sein, denn man weiß ja, dass man ihn oder sie durch das Verlassen sehr verletzen wird. Und häufig hängt ein Teil von einem immer noch an diesem Menschen, den man verlässt – man fühlt sich für sein oder ihr Wohlbefinden verantwortlich.
Und aus der Perspektive des Verlassenen erscheint es so einfach zu gehen. Manchmal erscheint es wie eine spontane Handlung, aber das ist es meistens nicht. Viele, die ihre Partner verlassen, hatten jahrelang starke Zweifel, ob sie gehen sollen oder nicht. Es gibt also jede Menge eigene Schuldgefühle und auch solche, die von anderen Menschen aus der Umgebung kommen.
Frauen sind mutiger
Scholl: Gehen Frauen leichter als Männer oder tun sie sich schwerer? Was sind da Ihre Erfahrungen?
Gran: Wenn außerhalb der Beziehung jemand anderes auf einen wartet – das passiert ja manchmal – dann ist es weniger schmerzhaft, zu gehen. Manchmal ist es pure Erleichterung und Glück. Das gilt für Männer wie für Frauen, denke ich. Aber wenn man ein rücksichtsvoller Mensch ist, wird es immer schwierig sein, zu gehen, egal ob man nun männlich oder weiblich ist.
Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, die ich für das Buch interviewt habe, haben stark gelitten, als sie sich getrennt haben, sie fühlten sich schuldig, egoistisch und hart. Für keinen von ihnen war es einfach.
Männer haben eine größere Auswahl an neuen Partnern – ein 50-jähriger Mann kann für eine 25-jährige Frau noch attraktiv sein, andersherum ist es seltener. Trotzdem haben Männer eine stärkere Tendenz, mehr hinzunehmen – sie sind bereit, in einer Beziehung zu bleiben, auch wenn sie nicht wirklich glücklich sind, oder sogar richtig unglücklich.
Frauen sind ungeduldiger. Sie wollen, dass ihre Partner aufmerksam und für sie da sind. Und wenn die Partner das nicht sind, dann werden Frauen schneller sehr unglücklich und trennen sich, auch wenn draußen keine neue Liebe auf sie wartet. Sie sind in gewisser Weise mutiger. Sie nehmen dafür auch Einsamkeit in Kauf. Für sie ist es besser wirklich einsam zu sein, als sich innerhalb einer Beziehung einsam zu fühlen. Ich glaube, es ist ihnen wichtiger ihr eigenes Ich wiederzufinden, als einen neuen Partner.
Hoffen und aufhören zu hoffen
Scholl: Wann lohnt es sich aus Ihrer Sicht, für eine Partnerschaft zu kämpfen, zu bleiben, wann sollte, wann muss man gehen?
Gran: Ich denke, man sollte gehen, wenn man das Gefühl hat innerlich abzusterben. Die Menschen kämpfen sehr lange für ihre Beziehungen. Wir sind sehr hoffnungsvolle Wesen. Wir hoffen immer, dass alles gut wird, dass die schönen Tage wiederkommen können – und manchmal tun sie das auch, wenigstens ab und zu. Und dieses „ab und zu“ kann dazu führen, dass wir am Ball bleiben.
Aber wenn man aufhört zu hoffen, dann ist das ein Wendepunkt für viele Menschen. Wenn die Hoffnung verschwindet, dann – so haben mir viele, mit denen ich gesprochen habe, gesagt – dann ist das eine Art physisches Gefühl, man weiß, wenn es vorbei ist. Im Buch beschreibe ich das mit den Worten „Es ist Schluss“ – es ist, wie wenn eine Vase zerbricht oder ein Seil zerreißt: Man hat das Gefühl, nicht wieder umkehren zu können.
Wenn man den Eindruck hat, dass man selber verschwindet, dass man verblasst, dass man nicht mehr man selber ist, dann ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen, an dem man gehen sollte.
Umgang mit den Schuldgefühlen
Scholl: Und wie wird man nun frei von Schuldgefühlen? Was wäre hier der erste Schritt?
Gran: Bei vielen Leuten ist es so, dass, wenn sie das Gefühl haben, alles versucht zu haben, fühlen sie sich auch nicht mehr so schuldig. Wenn sie eine Therapie gemacht haben; wenn sie über Jahre versucht haben, ihre Beziehung zu retten, oder bereits um diese getrauert haben und wirklich über Jahre hinweg versucht haben, mit ihrem Partner in Verbindung zu bleiben und das trotzdem nicht funktioniert – dann ist das der Anfang vom Ende der Schuldgefühle.
Schuldgefühle können auch verschwinden, weil man anfängt sich frei zu fühlen, erleichtert und als neuer Mensch; wenn die Trennung das Gefühl des Gefangenseins und des Erstickens beendet. Sie kann das Gefühl, als Person immer kleiner zu werden, umkehren und einen wieder zu demjenigen werden lassen, als der oder die man sich mochte – sein altes Ich.
Und Zeit heilt Schuld, denke ich. Wenn man sieht, dass der Verlassene eine neue Liebe gefunden hat, dann verringert das auch die Schuldgefühle.
Aber es gibt kein Rezept. Man braucht Zeit und muss sich Mühe geben, sich frei von Schuld zu fühlen. Und manchmal glaube ich, ist es auch gar nicht so schlecht, Schuld zu verspüren, wenn man jemanden wirklich verletzt hat. Das ist normal im Leben eines Menschen.
Knausgard, der Meister der Emotionen
Scholl: Sie haben für Ihr Buch auch Beispiele aus Film, Theater und Literatur herangezogen. Es ist natürlich ein großes, großes Thema in allen Künsten. Sie zitieren etwa Karl Ove Knausgard, der mit seiner Autobiographie zum Weltstar wurde. Was haben Sie bei diesem Landsmann gelesen für Ihr Thema – seine radikale Ehrlichkeit im Umgang mit seiner Ehefrau vielleicht, die ihn am Ende ja verlassen hat?
Gran: Oh ja. Ich glaube, ich habe alle seine Bücher gelesen. Wissen Sie, Menschen sehnen sich nach einem Wachstum des Selbst. Wenn wir frisch verliebt sind, fühlen wir diese Ausdehnung, wir fühlen uns schöner, stärker und klüger denn je. Und indem wir die andere Person in unser Selbst aufnehmen, wachsen wir. Dieses Gefühl zu wachsen und unschlagbar zu sein, mögen wir so sehr.
Als Autor ist Knausgard meines Erachtens ein Meister der Emotionen – er ist einer der Besten. In seinen Romanen gibt es so viele Szenen, in denen er zeigt, wie Emotionen über uns bestimmen und uns in verschiedenen Lebenssituationen leiten. Wir halten uns für rationale Wesen, aber das sind wir nicht.
Ich denke, seine Bücher sollten Pflichtlektüre für alle Therapeuten sein, wegen seiner einfühlsamen und dichten Beschreibungen davon, wie wir über unsere Gefühle miteinander in Beziehung kommen, und wie wir die Verbindung verlieren, wenn unsere emotionalen Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Er scheint eine Menge darüber zu wissen.
Keine Anleitung zum Verlassen
Scholl: In Norwegen nennt man sie die Advokatin der Paarbeziehung, nun könnte man sie die Anwältin der Verlassenden nennen. Haben Sie schon entsprechende Reaktionen auf Ihr Buch erhalten?
Gran: Oh ja. Einige Leute mögen diese Perspektive nicht. Das kann ich sehr gut verstehen. Aber wenn man Therapeut oder Psychologe ist, dann muss man beide Seiten der Medaille sehen. Denn das Leben ist voller Widersprüche und damit müssen wir leben – egal, ob wir es mögen oder nicht.
Ich kann gut mit dieser Kritik leben, und ich habe auch mit Leuten darüber gesprochen, über ihr Gefühl betrogen worden zu sein. Darüber, wie hart es ist, verlassen zu werden. Aber wenn man weiterleben möchte, nachdem man verlassen wurde, muss man auch lernen, sich selber zu verstehen; seinen eigenen Anteil daran, warum die Ehe oder Beziehung zerbrochen ist; sich fragen „was war meine Rolle dabei?“
Nicht, weil wir jetzt die Schuld dem Verlassenen zuschieben möchten, sondern weil wir alle in der Lage sein sollten, uns selbst unsere Geschichte zu erzählen, uns über die Dinge klar zu werden, um weitermachen zu können.
Das Buch ist keine Anleitung zum Verlassen des Partners, sondern eher eine Warnung vor dem, was man vermeiden sollte, wenn man die Liebe am Leben halten möchte."
Ein Artikel von Joachim Scholl im Gespräch mit der Paartherapeutin Sissel Gran, www.Deutschlandfunkkultur.de